Zum diesjährigen Holocaust-Gedenktag am 27. Januar hatte eine kleine Gruppe, bestehend aus Schülerinnen und Schülern der Q-Phase der Dreieichschule, die Gelegenheit, eine besondere Zeitzeugin der dritten Generation kennenzulernen: Nina Grünfeld.
Nina Grünfeld, geboren 1966, ist eine vielfach ausgezeichnete norwegische Filmemacherin, Autorin mehrerer Bücher und Fernsehdokumentationen, Podcasterin sowie Professorin an der Innland Norway University – und Enkelin. Enkelin Frida Grünfelds, einer der 6 Millionen Jüdinnen und Juden, die im Holocaust durch die Nationalsozialisten verfolgt, ausgebeutet und ermordet worden sind.
Am diesjährigen Gedenktag ist Nina Grünfeld im Horváth-Zentrum Walldorf, der ehemaligen KZ-Außenstelle und heutigen Gedenkstätte, eingeladen, aus ihrem im Januar auf Deutsch erschienenen Buch "Frida – Auf der Suche nach meiner verfolgten Großmutter" zu lesen und Fragen der Schülerinnen und Schüler zu beantworten. Wir durften eine bewegende Veranstaltung erleben und eine bemerkenswerte Frau kennenlernen.
In ihrem Buch kontrastiert Nina Grünfeld die verbrecherischen Geschehnisse der NS-Geschichte und die Auswirkungen der Besatzungspolitik der Nazis auf das Leben der jüdischen Bevölkerung mit der persönlichen Suche nach ihrer Großmutter Frida – einer Großmutter, die sie nie kennenlernen durfte.
Selbst Ninas Vater, Berthold Grünfeld, Fridas unehelicher Sohn, lernt seine Mutter nicht wirklich kennen; lediglich ein einziges Zusammentreffen ist ihm in Erinnerung geblieben. Frida kann nicht für ihren Sohn sorgen und er wird sofort nach seiner Geburt 1932 in eine Pflegefamilie in Bratislava gegeben. Dort verbringt er seine Kindertage und kommt 1939 – über ein jüdisches Waisenhaus vor den Nazis gerettet – nach Norwegen. Er wird dort studieren, renommierter Psychiater werden und eine Familie gründen. Eine der Töchter ist Nina, die schon früh anfängt, nach den familiären Wurzeln ihres Vaters zu suchen.
Über seine Mutter, von der er lange nur wusste, dass sie wohl keine „respektable Frau“ gewesen sei, sagt Berthold Grünfeld später: „Sie hatte keine Chance...Sie war Jüdin, sie entstammte der ungarischen Minderheit, sie war eine alleinstehende Mutter und sie war auf die schiefe Bahn geraten." Tatsächlich gelingt es Nina in jahrzehntelanger Recherchearbeit mehr und mehr über ihre Großmutter in Erfahrung zu bringen: so erfährt sie aus Polizeitakten und Verhörprotokollen, dass Frida, die 1908 im slowakischen Dorf Lelesz auf die Welt gekommen ist, seit 1930 in Großstädten wie Prag und Bratislava ihren Lebensunterhalt als Prostituierte verdienen musste. Kleinere Delikte wie Trunkenheit oder unbediente Geldforderungen sind Zeugnis der prekären Lage, in der sich Frida als mehrfach Diskriminierte befunden hat. Es sind aber auch diese Akteneinträge, die es ihrer Enkelin später ermöglichen, das Leben ihrer Großmutter – zumindest in kleinen Bruchstücken – zu rekonstruieren.
So erfährt sie auch aus den zahlreichen Deportations-Listen, die die NS-Verbrecher geführt haben, dass Frida 1944 inhaftiert und nach Auschwitz deportiert worden ist; von dort wird sie weitertransportiert ins KZ-Außenlager Walldorf, wo sie von August bis November 1944 als eine von 1700 Jüdinnen als Zwangsarbeiterin ausgenutzt wird. Schließlich wird Frida im Frauenlager Ravensbrück kurz vor Kriegsende, am 6. April 1945, ermordet.
Nina Grünfeld hat viel über ihre Großmutter in Erfahrung bringen können, sie hat zahlreiche Leerstellen in ihrer Geschichte gefüllt; was sie bis heute aber schmerzlich vermisst, ist eine Fotografie, die ihre Großmutter zeigt. Sie kann nur erahnen, wie die Frau ausgesehen haben mag, deren Geschichte sie ihr ganzes Leben beeinflusst hat. Was sie allerdings finden konnte, waren ein Fingerabdruck und eine Unterschrift Fridas – beide sind heute auf der Fassade des KZ-Gedenkstätte angebracht.
Es ist manchmal also nicht viel, das bleibt von den Ermordeten des Holocaust, insbesondere denen, die am Rande der Gesellschaft gelebt haben. Dank der unermüdlichen Recherche ihrer Enkelin, die sie nie kennenlernen durfte, ist für Frida Grünfeld nun aber ein Zeugnis geschrieben, das an sie erinnern wird. Und es ist ein Ort geschaffen, an dem ihrer gedacht werden kann. So ist es besonders bewegend gewesen, 78 Jahre nach Kriegsende, gemeinsam mit dem Frankfurter Rabbiner Gurevitch das erste Mal das Kaddisch, das jüdische Totengebet, für Frida Grünfeld zu sprechen. Nicht unter ihrem Foto, aber unter ihrem Fingerabdruck, den sie dank Nina nun sichtbar gemacht in der Welt hinterlassen hat.
Fotos von Marcus Winson