Kriegserlebnisse im 2. Weltkrieg – Dreieichschüler berichten

Im letzten Jahrhundert gab es zwei verheerende Weltkriege. Im Schularchiv sind bewegende und aufrüttelnde Schülerbiografien hinterlegt, die die Schrecken des Krieges auf ganz persönlicher Ebene wiedergeben. Gerade in der heutigen Zeit, in der die Kriegsgefahr auch in Deutschland spätestens seit dem Krieg in der Ukraine wieder zunimmt, zeigen solche Dokumente das ungeschönte und hässliche Bild des Krieges.

Lebenslauf 1

1931 wurde ich in Dresden als Sohn eines Regierungsrates geboren. Ostern 1938 begann meine Schulausbildung. Ich besuchte zunächst die Volksschule.

Der Unterricht in der 5. und 6. Klasse verlief noch nahezu normal. In der 7. Klasse entstand ein größerer Ausfall von Unterrichtsstunden durch öfteren Fliegeralarm. Die heftigen Luftangriffe im Januar/Februar 1945 legten den Schulbetrieb völlig lahm.

Im gleichen Monat siedelten wir ins Vogtland (Sachsen) über, wohin mein Vater als kommissarischer Leiter des dortigen Landkreises versetzt worden war. Die letzten Wochen bis zum Zusammenbruch besuchte ich die dortige Oberschule für Jungen, jedoch war ein regelrechter Schulbetrieb nicht mehr gewährleistet.

Mein Vater führte die Geschäfte des Landrats über die Zeit des Zusammenbruchs hinweg und wurde von der amerikanischen Militärregierung in seinem Amt bestätigt. Am 1.7.1945 wurde Westsachsen und Thüringen den Russen preisgegeben. Wir konnten nicht mehr rechtzeitig die nahe bayrische Grenze überschreiten und mussten so in Oelsnitz bleiben. Anfang September wurde mein Vater von den Kommunisten des Amts enthoben, wenige Tage später sowjetischen Geheimdienst verhaftet und ins Gefängnis Bautzen verschleppt. Seit Weihnachten 1945 fehlt jede Spur von ihm. Unsere Familie wurde kurzerhand auf die Straße gesetzt. Nachdem wir bald darauf in einem Dorf Unterkunft gefunden hatten, wo meine Mutter als Lehrerin arbeitete, entschlossen wir uns, der drohenden Gefahr einer weiteren Drangsalierung durch Wegzug nach Westdeutschland zu entgehen. Über das Flüchtlingslager gelangten wir über die Grenze bis nach Offenbach a. M., wo wir von Verwandten für kurze Zeit aufgenommen wurden. Im Januar 1946 erhielten wir Zuzug nach Langen, wo wir zunächst ein kümmerliches Dasein fristen mussten, bis wir im Laufe der Jahre unsere Lage verbessern konnten.

Lebenslauf 2

Ich bin 1934 geboren. Mein Vater war Lehrer. Zusammen mit meinen zwei älteren Brüdern, der eine ist 1927, der andere 1930 geboren – verlebte ich in Langen sorglose Kinderjahre. 1939 zogen wir von einer Mietwohnung in ein Haus, das meinem Vater als Eigentum gehört. Er musste es im Februar 1940 verlassen, weil er zum Heeresdienst eingezogen wurde. Seit diesem Zeitpunkt war die Geborgenheit meines Lebens bedroht.

Im Herbst 1941 wurde ich in die Volksschule Langen aufgenommen und war fast völlig auf mich allein angewiesen, da mein ältester Bruder 1944 als Luftwaffenhelfer[1] eingezogen wurde. Auch mein zweiter Bruder wurde in den letzten Kriegsjahren im Alter von 15 Jahren in den Volkssturm[2] eingereiht.

Die Zeit der schlechten Ernährung und der Bombenangriffe machte mich zu einem schwächlichen und nervösen Kind. Die unsicheren Verhältnisse der letzten Kriegsjahre und die Besatzung steigerten die Unruhe, die sich auch auf mich auswirken musste.

In unser Haus hatten wir gegen Ende des Krieges eine ausgebombte[3] Familie aufgenommen. Als meine Großeltern ihre Wohnung verloren, zogen auch sie noch zu uns. Dadurch, dass immer mehr Menschen in unserem kleinen Hause Zuflucht suchten, wurde das Zusammenleben immer schwerer.

Mit dem Waffenstillstand 1945 hatten die Gehaltszahlungen an meine Mutter völlig aufgehört, und sie musste sich und mich mit Handarbeiten durchs Leben bringen. Wir hätten ohne Unterstützung von Verwandten, die ebenfalls in Schwierigkeit und Sorge geraten waren, nicht bestehen können.

Von meinem Vater hörten wir sehr lange nichts. Auf großen Umwegen kam schließlich 1946 die Nachricht, dass er in russische Kriegsgefangenschaft geraten sei. Ein erstes Lebenszeichen von ihm erhielten wir erst Ende 1946.

Mein zweiter Bruder, der inzwischen durch Netzhautablösung fast völlig erblindet war, wurde 1945 von einer Flüchtlingsfamilie zurückgebracht, die von da an auch noch in unserem Hause wohnte.

Er musste zweimal am rechten Auge operiert werden, so dass ihm wenigstens auf diesem – das linke Auge war völlig erblindet – eine geringe Sehkraft erhalten blieb. Nach seiner Heilung kam er für einige Zeit in die Blindenschule nach Marburg. Jetzt lebt er mit einer geringen Rente in unserem Hause. Er hat bis heute noch kein eigenes Einkommen und wird sich wahrscheinlich auch nie eine selbständige Existenz schaffen können.

Mein ältester Bruder war in amerikanische Kriegsgefangenschaft geraten. Die Sorge um uns veranlasste ihn, die Flucht aus der Gefangenschaft zu wagen, und er kam auf diese Weise im September 1946 glücklich zurück. Weil wir nicht wussten, ob der Vater heimkehren werde, musste er sich entschließen, einen Beruf zu wählen, der ihm Aussicht bot, möglichst bald Geld zu verdienen. Bis er aber seine erste bezahlte Stellung erhielt, war große Not im Hause.

In dieser gespannten Atmosphäre, in einem überfüllten und lärmenden Haus und stets mit anderen Menschen in einem kleinen Raum zusammen, musste ich, nachdem ich 1946 in das Realgymnasium (die heutige Dreieichschule) aufgenommen war, arbeiten, mich für die Schule vorbereiten und zu bilden versuchen.

Endlich, nach langem und verzweifeltem Warten, kam im Dezember 1949 mein Vater aus der Gefangenschaft zu uns zurück, musste aber noch monatelang auf seine Wiedereinstellung warten. Schließlich bekam er am 1. September 1950 wieder eine Lehrerstelle, und seitdem begann unsere Not sich allmählich zu lindern, aber noch heute sind die Folgen der schlimmen Jahre zu spüren.

Meine Neigung zu den Naturwissenschaften wurde besonders durch einen amerikanischen Nachbarn, einen Radio- und Fernmeldeingenieur, bestärkt, der seinem Sohn und mir jede mögliche Unterstützung bei der Beschäftigung auf diesem Gebiet gewährte. Durch ihn hatte ich auch die Möglichkeit, während meiner Ferien die amerikanische Hochschule in Frankfurt am Main zu besuchen.

Erfreulicherweise wurde ich dabei in der englischen Sprache sicherer, und auch meine körperliche Verfassung besserte sich dank der Unterstützung meines amerikanischen Gönners rasch und nachhaltig.

 

Fußnoten:

[1] Mit 15 mussten Schüler ab Januar 1943 in einer Flugabwehrstellung in der Nähe der Schule (hier: Neu-Isenburg) Kriegsdienst leisten.

[2] Der Volkssturm bildete eine militärische Formation aus 15 bis 60jährigen Männern, die im letzten Kriegsjahr noch in die Wehrmacht eingegliedert wurde.

[3] Durch Fliegerangriffe der Alliierten wurden viele Wohnhäuser zerstört. Familien, die so ihre Wohnung verloren, wurden als ausgebombt bezeichnet.

Lebenslauf 3

1933 wurde ich im Erzgebirge geboren.

Zu Ostern 1940 trat ich in die zweiklassige Grundschule ein. Da ein Lehrer nach dem anderen zum Kriegsdienst eingezogen wurde, konnte für das erste Halbjahr kein Zeugnis erteilt werden. Vom Herbst 1940 bis zu meiner Versetzung zur höheren Schule musste dann eine Lehrkraft sämtliche acht Schuljahre unterrichten. So waren gerade wir jüngeren Schüler oft gezwungen, uns selbständig mit gestellten Aufgaben zu beschäftigen.

1943 durfte ich wegen guter Leistungen eine Klassenstufe überspringen und kam im Sommer 1943 zur weiterführenden Schule. Dieser Anstalt war ein Internat angeschlossen, so dass die Schüler nur über Sonntag nach Hause fuhren.

Bereits vor den Weihnachtsferien 1944 besuchten wir wegen Kohlenknappheit die Schule nur noch einmal in der Woche und hatten vom Januar bis November 1945 überhaupt keinen Unterricht mehr.

Beim Einmarsch der Russen und in der darauffolgenden Besatzungszeit verloren wir unseren gesamten Besitz und mussten schließlich aus der Dienstwohnung zu Verwandten in der Nähe von Meißen umziehen. Da sich mein Vater noch in amerikanischer Kriegsgefangenschaft befand und wir keinerlei Unterstützung erhielten, war meine Mutter gezwungen, bei ihrem Bruder auf dem Bauernhof zu arbeiten.

Der Besuch der Schule wurde mir ab November 1945 durch Stipendien, die ich für gute Leistungen erhielt, weiterhin ermöglicht. Zunächst konnte aber nur Deutsch, Mathematik, Englisch, Erdkunde und Musik-Unterricht erteilt werden.  Für alle übrigen Fächer fehlten bis zum Sommer 1947 voll ausgebildete Lehrkräfte.

In unserer Freizeit im Internat nahmen wir an Diskussionsstunden der Freien Deutschen Jugend (FDJ) und der verschiedenen Parteien teil, besuchten oft Kulturfilme und veranstalteten im Wettbewerb mit anderen Jugendgruppen Konzert- oder Theaterabende. Sogenannte Kulturwettstreite wurden dann zwischen den besten Gruppen des Kreises oder des Landes ausgetragen.

Zu Theater- oder Opernaufführungen konnten wir nur selten als FDJ-Gruppe fahren. An den wenigen Wandertagen, die nicht durch Betriebsbesichtigungen oder Sonderarbeit auf dem Land ausgefüllt waren, besuchten wir die Gemäldegalerie und die berühmten Bauten in Dresden und Meißen.

Bei der gemeinsamen Arbeit im Garten und auf dem Feld oder beim Bau von Neusiedlergehöften, aber auch in den freiwilligen Arbeitsgemeinschaften der verschiedenen wissenschaftlichen Gebiete sollten wir in erster Linie für den Kollektivismus und Kommunismus erzogen werden.

Zu Ostern 1949 erhielt mein Vater in der Bundesrepublik wieder eine Stellung als Lehrer an einer Grundschule in Südhessen. Wir konnten allerdings nur einige Kleider und Wäschestücke mitbringen, besitzen deshalb noch heute zum Teil geliehene Möbel und können auch nur ganz allmählich wieder genügend Kleider, Wäsche und Hausrat kaufen.

Lebenslauf 4

Ich wurde 1935 in Berlin geboren. Mein Vater ist Ingenieur. Im Frühjahr 1938 kam ich nach Boltenhagen, einem Badeort in der Wismarer Bucht in Mecklenburg. Mein Vater war hierher an die Flugzeugerprobungsstelle versetzt worden. Dort in Boltenhagen verlebte ich eine wunderschöne Kindheit, die erst 1945 mit der Flucht ihren hässlichen Abschluss fand. „Wunderschön“ soll nicht besagen, dass ich nichts vom Krieg gemerkt hätte, wir hatten durch die unmittelbare Nähe der Erprobungsstelle und dadurch, dass der Anflugweg nach Berlin dort bei uns vorbeiführte, sogar sehr viel Alarm. Fast jede Nacht saßen wir in unseren Bunkern, und auch am Tag kamen die Flugzeuge über die See, oft ohne dass man sie vorher bemerkt hatte.

1943 griff auch in unser Schulleben der Krieg ein. Auf dem Schulweg lagen wir immer wieder minutenlang im Straßengraben zum Schutze vor den Tieffliegern. Im Herbst 1943 geschah dann das, was auf mein weiteres Leben einen nicht unerheblichen Einfluss haben sollte. Ich ging dicht vor unserem Hause die Straße entlang, als plötzlich ein Tiefflieger vor mir auftauchte – es war kein Alarm gegeben. Das Flugzeug nahm Richtung auf mich. Kurz hinter mir schlug der Schuss in den Boden. Äußerlich war ich unverletzt geblieben, doch der Schock hatte mich erstarren lassen. Die Folge von diesem Schock waren Phasen, in denen ich geistig abwesend war, die zwar nach den verschiedensten Versuchen der verschiedensten Ärzte an Häufigkeit und Dauer verloren haben, doch bis heute noch nicht verschwunden sind.

Der 2. Mai 1945 sollte der Tag sein, an dem wir den Ort, der für sieben Jahre unsere Heimat gewesen war, zum letzten Mal sahen. Die Dienststelle meines Vaters wurde evakuiert und die Familien sollten alle mitgehen. Über drei Tage brauchten wir mit dem Schiff zu dem kurzen Weg von Mecklenburg bis Schleswig-Holstein. Dies lag an dem dauernden Tieffliegerbeschuss, an den vielen Minen in der Ostsee und daran, dass die Häfen in Schleswig-Holstein in jenen letzten Kriegstagen überfüllt waren. Auf dem Schiff erlebten wir noch einen sehr schweren Fliegerangriff. Während wir die Schwimmwesten anlegen mussten, schlugen an Deck die Schüsse ein. In nächster Nähe sahen wir dann andere Schiffe brennen und versinken. Schließlich konnte unser Schiff im Hafen von Eckernförde anlegen. Dort lebten wir dann drei Monate lang mit vielen anderen zusammen, bis wir plötzlich über Nacht wieder räumen mussten.

Im Herbst 1946 hatte mein Vater dann nach seiner Entlassung aus Gefangenschaft hier in Langen eine Wohnung gefunden. Auch hier hatte ich Glück und wurde trotz nur eines halben Jahres in der 5. Klasse gleich in die 6. Klasse aufgenommen.