Projekt „KZ-Außenstelle Walldorf – Aufarbeitung einer alten Feldbahnlore“

In der Projektwoche vom 13. - 19. Juli haben sich 10 Jugendliche und junge Erwachsene der Dreieichschule Langen mit der Geschichte der KZ-Außenstelle Walldorf beschäftigt und sich dabei besonders mit der Frage auseinandergesetzt, welche Geschichte und welche Schicksale hinter dem Fund einer alten Feldbahnlore stecken. Gemeinsam mit der Margit-Horváth-Stiftung und dem Feldbahnmuseum Frankfurt haben wir praktisch und theoretisch gearbeitet - und die Lore restauriert. Einen Einblick in unsere Woche gibt der Bericht der Abiturienten Ira Hesse. 

Auch nach der Projektwoche haben sich freiwillige Helfer*innen zusammengefunden, um die Lore fertigzustellen und sie als Installations-Objekt in den Gedenkstätten-Lehrpfad in Walldorf zu integrieren.

Am Samstag, 11. November um 15 Uhr soll dieser neue Abschnitt im historischen Lehrpfad im Beisein von Angehörigen einer ehemaligen Inhaftierten eingeweiht werden. Dazu sind Sie herzlich eingeladen!

Carolin Heß

Bericht von Ira Hesse

Projekt „KZ-Außenstelle Walldorf – Restaurierung und Aufstellung von Feldbahnloren“

13.07.2023 – Donnerstag

In unserem Projekt beschäftigen wir uns in dieser Woche einerseits mit der Geschichte des ehemaligen KZ-Außenlagers in Walldorf, in dem gegen Ende des Zweiten Weltkrieges insgesamt ca. 1700 ungarische Jüdinnen inhaftiert waren und Zwangsarbeit leisten mussten. Dies geschah im Rahmen des Baus der ersten betonierten Rollfelder des Frankfurter Flughafens. Dabei setzen wir uns mit den Tätigkeiten auseinander, die sie verrichten mussten, wie ihr Alltag im Lager aussah sowie welche psychischen Auswirkungen dies auch neben den physischen hatte. Darüber hinaus bildet andererseits ein eher praktischer Teil die Ergänzung, bei dem wir eine Feldbahnlore, die vor ein paar Jahren gefunden wurde und mit welcher vermutlich die Zwangsarbeiterinnen aus Walldorf arbeiteten, restaurieren werden, welche später in einen Lehrpfad am Horváth-Zentrum (einer Gedenkstätte in Walldorf) integriert werden soll.
Durch die Woche wird uns die Geschichte von Márta Radnai begleiten, von der wir an jedem Tag zu Beginn einen Ausschnitt aus einem Interview mit ihr lesen werden, das chronologisch ihre Geschichte von der Deportation über verschiedene Konzentrationslager sowie unter anderem die Außenstelle in Walldorf bis zu Befreiung erzählt.

Bereits der erste Teil des Interviews heute ist mir im Gedächtnis geblieben. Márta erzählte von ihrem Leben in Ungarn vor der Deportation –  dass sie sich mit den antisemitischen Gesetzen zunächst arrangieren konnte und sich noch als Individuum integriert fühlte, aber sie von der Enttäuschung stark getroffen wurde, dass ihr bei ihrer Deportation keine Hilfe von ihren eigentlichen FreundInnen angeboten wurde.
Dadurch, dass man weitere Hintergründe über eine Person erfährt sowie einen Namen und ein Gesicht zu ihr hat, macht es die Schilderungen nahbarer, statt einfach nur zum Beispiel Zahlen zu lesen oder sich mit den sachlichen Fakten zu beschäftigen. Stattdessen wird einem nochmal verdeutlicht, dass es sich um ein junges Mädchen handelte, das deportiert wurde, welches etwa im gleichen Alter war wie wir Teilnehmenden heute und das auch gerade ihr Abitur absolviert hatte.

Im Anschluss gingen wir einen Teil des historischen Lehrpfads, der sich entlang des Waldes in der Nähe des Horváth-Zentrums in Walldorf befindet und auf dem uns Frau Rühlig (Vorstandsvorsitzende der Margit-Horváth-Stiftung) die Geschichte der Außenstelle, die jahrelang fehlende Aufarbeitung dieses Ortes nach dem Zweiten Weltkrieg, die von Verdrängen und Schweigen geprägt war, aber auch Anekdoten von Inhaftierten näherbrachte. Beim Vorlesen der Erfahrungsschilderungen wurde besonders das zusätzliche psychische Leiden deutlich. Während man bei dem Begriff der „Zwangsarbeit“ vermutlich zunächst (nur oder überwiegend) an die körperliche Ausbeutung unter katastrophalen hygienischen und allgemein menschenunwürdigen Bedingungen denkt, kommt neben den physischen Schmerzen noch die Zerstörung der Seele hinzu. Wenn es nicht „nur“ darum geht, als junge 15-Jährige körperlich extrem harte Arbeit zu verrichten und 50 kg schwere Zementsäcke zu tragen, sondern sie noch teils lebendige, teils leblose, den Umständen zum Opfer gefallene Menschen vergraben müssen. Oder bei jeder kleinen Pause „zu viel“ Angst haben müssen, erschossen zu werden. Oder, wenn sie aufgrund entzündeter Wunden an den Füßen nicht mehr richtig gehen oder geradestehen konnten, mit Prügel rechnen mussten. Oder, wenn sie die Todesschüsse derer hörten, die man angeblich zum Auskurieren, zur Versorgung ihrer Wunden wegtransportierte. Und danach der Frage der anderen Zwangsarbeiterinnen ausgeliefert waren, worunter sich womöglich auch enge Verwandte oder Nachbarinnen befanden, wo der Transporter denn hingefahren sei und ob die Geschwächten gut versorgt seien.

Die Formulierungen der Frauen waren teils so klar und von der Satzstruktur und den verwendeten Worten so einfach und schnörkellos, dass sie die Brutalität dessen, was die Sätze aussagten, nicht tragen konnten.
Gleichzeitig waren auch Pausen und die Stille nach dem Ende eines vorgelesenen Absatzes wichtig; dass man einen Erfahrungsbericht nicht in einem Zug schnell durchliest, weil es sonst passieren kann, dass man den Inhalt übersieht. Dass man den Inhalt nicht aufnimmt. Weil die Sätze so „einfach“ zu lesen sind, aber es so schwierig ist, sich das Gesagte vorzustellen und die Wahrheit auch nur im Ansatz nachzuvollziehen. Weil sie keine schweren, unverständlichen Fachbegriffe aufweisen, keine überflüssigen Nebensätze, die Berichte teils neutral, sachlich und unaufdringlich wirkten, aber einem wie ein Spiegel die bloße Realität, in ihrer Grausamkeit nicht fassbar, aufzeigten.

14.07.2023 – Freitag

Während wir gestern den Tag am Horváth-Zentrum in Walldorf verbrachten, waren wir heute im Feldbahnmuseum in Frankfurt. Dort durften wir zunächst im Museum viele interessante Informationen über den Einsatz und praktischen Nutzen von Feldbahnen erfahren, die nicht nur – wie der Name schon sagt – für die Feldarbeit hilfreich waren, sondern beispielsweise auch im Bergbau genutzt wurden (wobei sich die Bauart zwischen den Bahnen dann unterscheidet). Untermauert wurden die Informationen durch verschiedene Ausstellungsstücke von unter anderem Bahnen oder Loren sowie einigen detailverliebten, sehr filigranen Dioramen, die mögliche Szenen für den Einsatz jener veranschaulichten.

Im Anschluss durften wir dann selbst Hand anlegen beim Restaurieren der Lore, in die bereits schon viel Arbeit investiert worden war und welche beinahe in ihre ursprüngliche Form rekonstruiert werden konnte (nachdem sie während des zufälligen Findens am Frankfurter Flughafen von einer Baggerschaufel stark verbogen und nach innen gedrückt wurde). Nun war es unsere Aufgabe, die Lore sowie zwei Radachsen und Schienen, auf denen sie später stehen soll, mit Drahtbürsten zu entrosten. Während manche von dieser körperlichen Arbeit nicht ganz so begeistert waren, entdeckten andere eine ihnen bisher verborgene Leidenschaft darin und wollten gar nicht mehr aufhören :).

17.07.2023 – Montag

Als ich heute nach Hause kam, habe ich nicht nur Steine im Schuh, leicht eingestaubte Kleidung, Sandstaub im Gesicht, an den Armen, in den Haaren und Augen sowie eine Blase an der Hand mitgebracht, sondern vor allem das Wissen und die Erkenntnis, dass ich nichts weiß, dass ich keine Ahnung habe. Ich kann mir noch weniger vorstellen, wie es den Zwangsarbeiterinnen ging, obwohl ich heute viel gelernt habe, selbst Arbeiten verrichtete – genauer gesagt kann ich es mir gerade deswegen schlechter vorstellen.

Um die zu verrichtenden Arbeiten, von denen die Frauen berichteten, mit denen wir uns am ersten Tag der Projektwoche beschäftigt hatten, ein wenig besser nachvollziehen zu können, haben wir ein paar Tätigkeiten davon heute selbst ausgeführt. Dazu gehörte das Schaufeln von Sand und teils größeren Steinen in die Lore, das Schieben der Lore sowie das Tragen von Schienen.
Man hat nochmals ein anderes Verhältnis zu den Schilderungen der Zwangsarbeiterinnen erlangt. Weil man sie selbst ausführte, auch wenn dies natürlich – wenn überhaupt – nur im Ansatz miteinander zu vergleichen ist. Man hat es selbst erlebt und gespürt, was die Arbeiten bedeuteten, erlebt, was die Zusammenfassung „Sand bzw. Steine schaufeln“ oder „Schienen tragen“ nicht zu vermitteln, nicht zu überbringen schaffen. Sei es der Sand gewesen, der beim In-die-Lore-Werfen einem in die Augen wehte (wobei das noch das geringste Problem war), seien es Steine im Schuh gewesen, eine Blase an der Hand oder das Gefühl, dass einem gleich womöglich die Schiene aus der Hand fällt, weil man nicht mehr genug Kraft hat – und das bereits nach ein paar Metern. Und gleichzeitig weiß man aber, dass man das freiwillig macht, dass man theoretisch auch eine kurze Pause einlegen, etwas langsamer arbeiten kann, die Möglichkeit hat, zu trinken oder zu essen, Handschuhe sowie festes Schuhwerk trägt. Und als ich da vor mich hin schaufelte, versuchte ich mir vorzustellen, dass die jungen Frauen das nicht nur für ein paar Stunden, nicht nur für ein paar Tage, sondern mehrere Wochen, Monate, mehrere Stunden am Tag, von früh morgens bis spät abends ohne Pause, in der Mittagshitze oder bei Schnee ohne Schuhe mit entzündeten Wunden an den Füßen, unterernährt und unter menschenunwürdigen Bedingungen – und dabei wurden die psychischen und seelischen Grausamkeiten noch nicht einmal mit berücksichtigt – machen mussten. Ich konnte es mir vorher schon nicht vorstellen, aber jetzt noch weniger.

18.07.2023 – Dienstag

Diesen Vormittag beschäftigten wir uns zunächst mit unterschiedlichen Sicherheitsmaßnahmen, die heutzutage in verschiedenen handwerklichen Berufen obligatorisch sind, wie beispielsweise das Tragen von einer Schutzbrille, einem Helm, Schuhen mit Stahlkappen, einem Gehörschutz oder Handschuhen – damals und vor allem, wenn es um Zwangsarbeit ging, war daran jedoch nicht zu denken. Außerdem blieb mir besonders das Tragen eines 50 kg schweren Zementsacks im Gedächtnis, wobei wir dabei insgesamt drei Personen waren. Es hat einem nochmal deutlich aufgezeigt, wie unvorstellbar es ist, was die Frauen leisten mussten. Nach ein paar Sekunden konnten wir den Sack wieder mit von der Kraft verlassenen Armen auf dem Boden abstellen und allein der Gedanke daran, dass die Frauen die 50 kg meist alleine mit nach vorne ausgestreckten Armen entgegennehmen mussten und das eine Woche lang bis sie zu einer anderen, ebenfalls körperlichen Tätigkeit versetzt wurden, schien absurd.
Auch das Tragen von mit nassem Sand gefüllten Eimern, einer Tätigkeit, von der viele Frauen, die im Außenlager in Walldorf waren, berichteten, brachte die meisten an ihre bzw. seine Grenzen.

Bezüglich der Lore folgte nun nach dem Abbürsten des Rosts im nächsten Schritt das Einölen mit Owatrol, das die Lore vor der weiteren Rostbildung schützen soll.

19.07.2023 – Mittwoch

Diesen letzten Tag verbrachten wir nochmal am Horváth-Zentrum und beschäftigten uns mit der Geschichte des Kellers der Küchenbaracke, dessen Mauerreste vor einigen Jahren freigelegt wurden. Bei dieser Grabung wurden verschiedene Überreste wie beispielsweise Scherben von Geschirr oder ein Schuh, der vermutlich einem ehemaligen SS-Aufseher gehörte, gefunden, welche wir ansahen. Im Anschluss schauten wir uns den Keller an und lasen verschiedene Zitate, die dort auf kleinen Tafeln stehen und welche beinhalten, was den Frauen von diesem Kellerraum in Erinnerung blieb – dass sie selbst und andere Zwangsarbeiterinnen in jenem Raum brutal verprügelt wurden, manche teils bis zum Tod; sie berichteten von blutunterlaufenen Augen, verlorenem Augenlicht, Prügel, Schlägen und anderen Grausamkeiten, die nicht in Worten ausdrückbar sind.
Allgemein war dieser Tag von der Atmosphäre her nochmal etwas anders und eher schwer sowie bedrückend, da es keinen praktischen Teil gab, der körperlich anstrengend war.
Frau Heß fand zum Abschluss jedoch nochmal passende Worte, indem sie meinte, dass es nicht darum ginge, sich zu sehr davon bedrücken zu lassen, sondern dass man diese Kraft dafür verwenden könne, darüber zu sprechen, in einen Austausch zu kommen, Aufklärungsarbeit zu leisten beziehungsweise ein Bewusstsein dafür zu schaffen und selbst aktiv zu werden.

Allgemein bot die Projektwoche einen Raum, in dem der Austausch wichtig war, man die Möglichkeit hatte, offen Fragen zu stellen, in dem es durchaus auch lustige Momente gab, aber genauso auch bedrückende und ernste, es wurden nachdenklich machende Gespräche sowie konstruktive Diskussionen geführt. Am Ende jedes Tages schrieb jede Person für sich eine Reflexion, was einem von den vorangegangenen Stunden noch im Gedächtnis geblieben ist oder einen bewegt hat, was einem dabei helfen konnte, das Erlebte zu verarbeiten und sich nochmal damit auseinanderzusetzen.

Insgesamt kann ich sagen, dass ich diese Woche viel gelernt habe. Aber nicht nur das. Es war nicht das reine Aufnehmen von Informationen und In-der-Lage-Sein, diese wiederzugeben, sondern weit mehr. Es war nichts, das man aus einem Geschichtsbuch hätte lernen können, sondern nur dadurch möglich wurde, dass man vor Ort war. Dass man es erlebt hat. Dass es einem im wahrsten Sinne des Wortes vor Augen geführt wurde. Und dass es keine weite Strecke von unserem Wohnort entfernt ist. Dass KZ-Außenlager keine Seltenheit, sondern im ganzen Deutschen Reich verteilt waren, auch wenn die meisten Personen damals behaupteten, nichts von ihnen gewusst zu haben. Dass sie existierten und in ihnen viele Tausend bis Millionen Menschen litten, auch wenn Teile der Bevölkerung dies nicht wahrhaben wollten, die Augen davor verschlossen und die Lager nach Kriegsende weiterhin verdrängt und vergessen wurden. Und ich kann noch immer nicht verstehen, nicht begreifen, nicht im Ansatz nachempfinden, wie die damaligen Zustände beispielsweise in Walldorf waren und das möchte ich mir auch nicht anmaßen; aber ich habe eine andere Wahrnehmung, ein anderes Bewusstsein dafür entwickeln können.
Erst dadurch, dass man ein paar Arbeiten selbst verrichtete, die körperliche Anstrengung spürte, mit mehr Sinnen dabei war, konnte man ein wenig besser nachvollziehen, was die Schilderungen der Frauen überhaupt bedeuteten, wie schwer 50 kg eigentlich sind – was die Projektwoche zu einem nachhaltigen Ereignis macht, das mir noch länger im Gedächtnis bleibt.