Denk ich an die Dreieichschule, nicht nur nachts, nicht nur im Traum, habe ich immer noch Bilder im Kopf. Bilder aus einer eigenen Welt, einem Kosmos, einem Biotop, die ihresgleichen suchen. Es sind die besonderen Momente, aus denen sich wie unter dem Vergrößerungsglas Strukturen erkennen lassen. Die Verlässlichkeit meiner Beobachtungen ergibt sich aus deren Dauer: Immerhin habe ich in meinen 38 Jahren sechs Schulleitungen und neun Kultusminister er- bzw. überlebt.
Bei der Suche nach dem Schulgebäude in der Goethestraße hat ein heutiger Gast so seine Schwierigkeiten. Umstellt und verdeckt von Container-Klötzen glaubt man zunächst, dass es sich um das örtliche Flüchtlingszentrum handelt. Aber es ist tatsächlich Langens zentraler Lernort. Auf der kleinsten Fläche im Westkreis tummeln sich die meisten Schüler! Und weil das schon immer so war, ist Veränderung die erste Konstante des Schullebens. Immer wurde geplant, umgeplant und endlich gebaut. Mein schönstes Bild davon ist, als die massiven Holzpavillons an der Stelle, an der heute die Mensa steht, abgerissen wurden. Ich sehe die beiden Hausmeister, die beobachten, wie die Fußbodenplatten mit einem Kranbagger zur Seite gehoben werden. Im gleichen Moment wimmeln wie beim Rattenfänger von Hameln um ihre Stiefel hunderte von Mäusen, die ihre Heimat verloren haben, in der es ihnen jahrzehntelang dank der weggeworfenen Schulbrote und Müsliriegel gut ging.
So hat wohl jede Schulgeneration eine Phase des Um-, An- und Ausbaus erlebt. Es gibt einen Lehrer, der noch nach seiner Pensionierung gerne zur Schule kam, weil er so die neue Turnhalle im Betrieb erleben konnte, die er als Referendar mitbegonnen hatte zu planen. Eine hessische Kultusministerin kritisierte 2006 ihr Personal, dass es „unter Veränderungsstress“ stände und dem oft nicht gewachsen sei. Sie war nie an der Dreieichschule, da hätte sie ihre Aussage widerrufen müssen. Hier wurden monatelang bei höllischem Baulärm Klassenarbeiten geschrieben, durch das Gebäude irrende ‚Wanderklassen‘ auf den richtigen Weg gebracht und neue Räume wegen Ausgasungen der Fußbodenbeläge erst nach langer Zeit freigegeben. Sogar zeitfressende und letztendlich unsinnige Diskussionen wurden überstanden, als die Idee einer Schulamputation aufkam: Teile der Oberstufe sollten an die Einstein-Schule ausgelagert werden. Erst als allen Lehrkräften aufging, was das für eine Hin- und Herfahrerei bedeuten würde und was für ein Zerreißen der Schulgemeinschaft, war der Plan passé.
Wahrlich, wahrlich, die nehmen dem Frühling das Jahr weg, die die Schulen verfallen lassen.
(Philipp Melanchthon, um 1550)
An der Dreieichschule stimmt der alte Werbespruch der Bauindustrie: ‚Beton ist, was man daraus macht.‘ Es sind die Akteure, die Menschen, die das Bild der Schule prägen, und zwar alle: Lehrer, Schüler, Eltern, Schulleitung und nicht zuletzt das Hauspersonal. Mein Held war der beste Hausmeister aller Zeiten, Günther Stroh. Von ihm habe ich gelernt: Unbequeme Sachen macht man sofort oder gar nicht. Wem man ihm in der Pause sagte, dass das Neonlicht im Klassenraum flimmere, konnte es passieren, dass er mitten in der nächsten Stunde mit Leiter und neuer Röhre in der Tür stand, egal, wie es zum Unterricht passte: „Ei, lasst euch nicht stören, ich bin gleich fertisch!“ Mit ihm konnte man ohne Konferenz- und Formularkram Extradienste für regelverletzende Schüler vereinbaren. Und die Kinder gingen sogar gerne zu ihm nach der 6. Stunde! Ich sehe ihn auch mit Schubkarre auf dem Schulhof, auf dem in einer Projektwoche ein überdimensionales Schachfeld gemalt worden war. Bis zum Winter fuhr er am Ende des Schultages täglich die riesigen Schachfiguren wieder in den Abstellraum – was sicher nicht in seinem Aufgabenprofil stand.
Glück haben wir an der Dreieichschule auch mit den Schulleitern gehabt, und zwar mit allen. Die Männer und Frauen waren zwar sehr unterschiedlich in ihren Führungsqualitäten und ihren Schwächen, aber alle haben sich bis zur Erschöpfung eingebracht für „ihre“ Schule. Wenn sie mal erfolglos blieben, hatte das meist strukturelle Gründe. Jeder Chef eines mittelständischen Unternehmens hat einen Leiter für die Finanzen, für die Personalplanung, für den Kundenkontakt, vielleicht sogar für die Öffentlichkeitsarbeit, ach ja, und für die Pädagogik. In der Schule muss alles über den oder die Schulleiter/in laufen. Ohne deren Wissen und Unterschrift geht nichts. Sogar zweimal habe ich das Bild eines jeweils ausgelaugten, müden Schulleiters vor mir, der sich – kurz vor den Sommerferien – schon fast am Ende eines Schulfestes unter die Menge mischte mit den Worten: „Ich kam nicht eher aus meinem Büro. Ich habe den ganzen Nachmittag fertige Referendare antelefoniert, ob nicht einer an unsere Schule will.“
Der Lehrer ist nie fertig.
(Adolph Diesterweg)
Die Suche nach qualifiziertem Personal ist ein weiteres Kontinuum hessischen Schullebens. Allgemeiner Konsens war in Langen, dass wir immer viele Referendare an der Schule haben wollen, um uns so den guten Nachwuchs selber sichern zu können, natürlich auf Kosten großer Mehrarbeit der betreuenden Lehrer. Vor allem die unablässigen Veränderungen in der Ausbildung, die neue Lego-Philosophie, die Zerlegung in Module, brachte Ausbilder und Mentoren in Konflikte: Sie wussten, dass sie immer kleinere und scheinbar effektivere Schritte einfordern und begutachten sollten, aber gleichzeitig, dass Unterricht nur als Ganzheit funktioniert, zuallererst durch die Persönlichkeit der Lehrkraft und ihrer Identifikation mit Thema und Kindern. Einen kurzen Schreckmoment gab es schulseits, als es plötzlich aus dem Studienseminar hieß: „Die Referendare sind abgeschafft!“ Aber stattdessen wurden sie bloß in LIV umbenannt, was „Lehrkraft im Vorbereitungsdienst“ heißt (und nicht „Lotterleben ist vorbei“).
Bei der Personalsuche fast allein gelassen, gab es bei der Personalführung von oben eine Phase der Amerikanisierung, den Versuch des knallharten objektiven Faktenschecks. Allen Lehrern wurde eine Wunderwaffe vor die Brust gesetzt, das Portfolio: Darin musste man 50 Fortbildungspunkte pro Jahr nachweisen, einen Vortrag anhören brachte 5 Punkte. Schnell wurde gewitzelt, warum nicht auch der Monolog der Schulleitung in einer Gesamtkonferenz Punkte brächte, mit Durchhaltebonus. Das Ganze erledigte sich im Laufe der Jahre stillschweigend mangels fehlender Fortbildungsangebote, Kontrollen und Sanktionsdrohungen. Meine Portfoliomappe habe ich immer noch: 210 Punkte, 20,5 Tage und 17 Stunden sind kostenfrei abzugeben. Auch die Schulleiter bekamen den Versuch der Objektivierung zu spüren. Sie wurden zu rituellen Mitarbeitergesprächen verpflichtet, über Profil und Leistungsdefizite, eigene und schulische Zielvorgaben. Auf einer Personalversammlung 2004 wurde das mal durchgerechnet: „Wer als Schulleiter auf die Vorstellungen des KUMI abfährt, muss alle Lehrer im Unterricht beobachten, macht 80 Stunden, danach 80 Gespräche führen, dann schätzungsweise 30 Gespräche im Streitfalle noch einmal in Anwesenheit des Personalrats wiederholen, danach 15 Gütetermine beim Schulamt haben und dann davon die Hälfte beim Arbeitsgericht vertreten. Dazu gibt es als Folge ca. 200 Protokolle bzw. Berichte zu schreiben. Da bleibt die Frage: „Wie oft wird allein aus diesem Grunde wieder das Sekretariat geschlossen sein?“ Oder, mit anderen Worten: „Wir sind ein großes Stück vorangekommen“, sagte die Schnecke.
Überraschend belebend war eine andere Aktion des Kultusministeriums, die Schulinspektion. Alle hessischen Schulen wurden drei Tage lang begutachtet wie eine Firma durch die Buchprüfer des Finanzamtes. Doch die Damen und Herren gebärdeten sich nicht als Kontrolleure, sondern tatsächlich als Berater – und in der Schlussbilanz bekam die Dreieichschule gute, zum Teil glänzende Bewertungen. Nur in der Archivierung gab es ein Mangelhaft, was manche auch positiv sahen.
Ein Leben lang müssen wir lernen; nur in der Schule geht es um ganz andere Dinge.
(Stefan Rogal)
Viel zu wenig wird für den Lehrerberuf mit einem wesentlichen Argument geworben: Dieser Arbeitsplatz ist Ort der flachsten denkbaren Hierarchie. Der Lehrer macht in seinem Klassenraum die Türe zu und ist alleinverantwortlich. Da das dem misstrauischen Staat nicht gefallen kann, gibt es dauernde Kontrollversuche. Der Platz dafür sind die Konferenzen. Wie viele Vorgaben, Regeln, Erlasse tröpfelten hier schon auf ein Kollegium herunter, das diese Flut in ganz unterschiedlicher Weise, nämlich erfreut, ergeben, gleichgültig, erschrocken, erbost oder gar nicht zur Kenntnis nahm. Eine schlechte Kommunikationsstruktur führte manchmal nach dem stundenlangen Absitzen zu Hörfehlern und Entsetzen, mit dreifacher Steigerung: 1. „Sag mal, wie konntet ihr denn die Veranstaltung auf den Termin legen?“ 2. „Warum ist denn der Termin geändert worden?“ 3. „Was, der Termin war schon?“
Aber es gibt auch die andere Seite: Unvergessen ist mir eine Sternstunde der Konferenz-Kultur. Nachdem von oben, ohne Nachfrage bei den Betroffenen, eine Schulzeitverkürzung G 8 mit großem Aufwand eingeführt worden war – schönster Satz aus einer Fachkonferenz: „Wir haben die Industrielle Revolution gestrichen“ – , begann mit den neuen schlechten Unterrichtserfahrungen das Nachdenken auf allen Ebenen. Und das ohne Häme, Machtgehabe und egoistischem Mauern. Tatsächlich drehte sich durch die intensiven Diskussionen die Mehrheit, und in einer großen Gesamtkonferenz wurde wieder G 8 zu G 9.
So urdemokratisch ging es aber nicht immer zu. Wie viele Stunden habe ich allein mit dem Thema Rauchen verbracht! Über Orte, Alter, Kontrollen, Sanktionen und Grundsatzerklärungen – aber alles funktionierte nicht in der Praxis oder es führte zu so grotesken Lösungen, dass der privilegierte Platz unter der Schulhofterrasse zur „Raucherecke“ geadelt wurde. Da war es ein echter Befreiungsschlag, als die damalige Kultusministerin, die ansonsten keine Konturen in der hessischen Schullandschaft hinterlassen hat, einfach, Knall auf Fall, für alle Schulen ein absolutes Rauchverbot auf dem gesamten Schulgelände verfügte. Mit einem Schlag war das Problem gelöst. Nur noch wenige abgehärtete Raucherschüler sammelten sich in der Pause außerhalb hinter den parkenden Autos. Etwas größer war das Problem bei den süchtigen Lehrern. In kürzester Zeit fanden sie ein Asyl: Der Hausmeister gab es ihnen im Heizungskeller, ganz hinten, ohne Fenster. Wenn man da einen der oft auch in anderer Weise sehr engagierten Kollegen suchte, musste man smogerprobt sein.
Dass Fazit einer Personalversammlung zum Schuljahr 2007 enthielt eine falsche Prognose: „Mit den gesellschaftlichen Widersprüchen umzugehen, fällt der Schule immer schwerer. Die ersten zehn Jahre meiner Dienstzeit hier haben wir über illegale Drogen diskutiert, dann 15 Jahre lang über das Rauchen, und meine restlichen Jahre werde ich mich wohl über den Umgang mit Alkohol streiten müssen.“ Der Begriff ‚Alkohol‘ ist zu streichen und durch ‚Handynutzung‘ zu ersetzen.
Bedenke: Von allem sind sieben Achtel unsichtbar.
(Alfred Marshall)
Die Machtlosigkeit gegenüber dem exzessiven Sparen im Bildungssektor trieb zu allen Zeiten in allen Bereichen die seltsamsten Blüten, die der Personalrat regelmäßig beklagte: „Wir schreiben brav unsere Förderpläne, aber haben fast keine Förderstunden zur Verfügung.“ Oder: „Nur in einem totalen Alleingang war es einem Kollegen gelungen, eine damalige Langener Computer-Weltfirma anzuzapfen und einen ganzen Klassensatz sauteurer Computer locker zu machen. Es war und ist bis heute (2007) die größte Spende, die die Schule je bekommen hat.“ Fünf Jahre später bemerkt der Personalrat am Jahresende: „Es ist an dieser Stelle kaum zu vermitteln, wie viel Ausdauer es manchmal braucht, auch banalste Verbesserungen durchzusetzen, wie eine Uhr in jedem Klassenraum oder wieder die alte, bessere Kreide (!!) zu bekommen.“ Heute nur noch als lachhaft zu erzählen ist, dass ganze Gremien damit befasst waren, dass der Direktor persönlich ins Gerät eingab, wie viele Kopien eine Lehrkraft im Monat verbrauchen durfte. Schon bzw. noch 2008 sehe ich das Bild eines neu ernannten Schulelternberates, der nicht fassen kann, dass die Adressen für Elternbriefe, vor allem die berüchtigten ‚blauen‘, noch mit der Hand geschrieben werden. In einem Jahr kam ein ganzer Satz Mahnungen zurück, weil es in Langen und Egelsbach die gleichen Straßennamen gibt und man deshalb nicht die Orte verwechseln sollte.
Als ich an die Schule kam, herrschte geradezu eine Lähmung, eine Angstpsychose. ‚Die 68er‘ waren das Schreckgespenst, dass ein ganzes Kollegium eingemauert und alle Gemeinschaftsveranstaltungen gekappt hatte. Es gab keine Abifeiern, keine Fahrten und keine Feste. Schulische Projekte schon gar nicht, nur ein desolates Sprachlabor. Erst 1979 gelang es, wieder ein Schulfest zu installieren. Nicht vergessen habe ich die Mahnung des Schulleiters einen Tag davor: „Sie haben die Verantwortung.“ Wegen der jahrelangen Ödnis zuvor war der Erfolg unvermeidbar, die Kreativität der Klassen übersprudelnd. Klaglos wurden die Einnahmen von 4475,32 DM abgegeben und, für die Zeit typisch, verteilt: zur Schulhofgestaltung, für die Fahrrad AG und an Amnesty international. Ein verjüngtes Kollegium, dass die alten Konflikte nur noch vom Hörensagen kannte, eröffnete ganz neue Felder.
Die Breite neuer Aktivitäten zeigen zwei Details: Bis weit über die Jahrtausendwende gab es an der Dreieichschule immer Schülerzeitungen, in den 1980er Jahren sogar mal drei gleichzeitig. Am längsten hielt sich der ‚Rotstift‘ – ein kritisches Oppositionsblatt, dass mit manchen Ausgaben nur außerhalb des Schulgeländes verkauft werden durfte. Und aktuell pikant: Schon 1996 gelang es, 100 Fahrräder zu sammeln, herzurichten und zu spenden, allerdings nicht in die Ukraine, sondern nach Weißrussland.
Ein Fortschritt war die bessere Zusammenarbeit des Kollegiums mit den Eltern. Nicht nur der Förderverein, 1993 vom damaligen Schuleiter Voigt angestoßen, bezog die Eltern mehr ein, auch die Augenhöhe hatte sich verändert. Der Personalrat war auf jeder Elternbeiratssitzung dabei und konnte so viele Unmutsäußerungen entschärfen und Faktendefizite ausgleichen. Denn nicht nur bei diesen beiden Gruppen, ganz allgemein kann ich als Personalrat erfahrungsgesättigt bestätigen, dass mindestens die Hälfte aller Konflikte nicht auf gegensätzlichen Positionen beruhen, sondern auf Missverstehen oder, noch häufiger, fehlender Kommunikation; kommen persönliche Aversionen hinzu, sind es sogar die Mehrheit der Streitfälle. Da habe ich jetzt ganz verblüfft auf der aktuellen home page der Schule gelesen, dass das ‚4-Stufen-Modell zur Konfliktlösung‘ immer noch zu gelten scheint. Schulleitung, Eltern und Personalrat haben es in mühsamer, über ein Jahr langer Arbeit entwickelt und 2011 einstimmig verabschiedet. Die Bilanz auf einer Lehrerversammlung zwei Jahre später: „Das Konflikt-Lösen läuft in 95 Prozent aller Fälle gut, nur die restlichen 5 Prozent machen viel Arbeit, erstens, weil darunter immer militantere Eltern sind, und zweitens, weil es leider auch Kolleginnen und Kollegen gibt, die Probleme nur aussitzen wollen und Eltern nicht ernst nehmen.“ Auch eine Erziehungsvereinbarung wurde von und für Schüler, Eltern und Lehrer entwickelt und vom formal höchsten Gremium, der Schulkonferenz, verabschiedet. Deren Einhaltung verblasste allerdings nach einigen Jahren wie das Exemplar, dass unter Glas lange vorm Lehrerzimmer hing und womöglich bis heute gelten müsste. Der wichtigste Satz: „Wir halten Regeln und Absprachen ein.“
Die verbesserte Kommunikation zeigte sich auch beim Daueralarm-Thema Unterrichtsausfall. Ein über seine Grenzen engagiertes Stundenplanteam und ein im Ganzen solidarisches Kollegium lobte sich 2013 selber. „Es ist doch schön, an einer Schule arbeiten zu können, wo man ganz beruhigt krank sein darf und sich nicht aus Sorge um seine Schüler zum Unterricht schleppt, weil man weiß, dass andere Kollegen für einen einspringen.“ Viel zu wenig ist bekannt, wie auch längere Krankheitsausfälle immer wieder ohne Ersatz, nur mit dem eigenen Personal, überbrückt worden sind.
Der Mensch ist, was er ist, wie er als Mensch sein soll, erst durch Bildung.
(Georg Friedrich Wilhelm Hegel)
Schule als ein sich unaufhörlich entwickelndes Biotop lebt aber auch von der Veränderung, von den Wünschen seiner Bewohner. Während Lehrer und Eltern eher das beharrende, stabilisierende Skelett bilden, sind die Schüler der Blutkreislauf, das belebende Element. Ein Bild davon sind für mich die viele Jahre mit ungeheurer Energie aufgeführten Musicals. Weit und breit gibt es keine Schule, die es geschafft hat, über 200 Schüler zu schauspielerischen, musikalischen und tänzerischen Höchstleistungen auf die Bühne zu bringen, ganz ohne professionelle Hilfe. Diese Verknüpfung von Spielfreude, Begeisterung und Stolz mit Disziplin, Anspannung und Ausdauer zeigt einen wesentlichen Aspekt des Schullebens, das ja nicht zufällig etwas mit ‚Lebendigkeit‘ zu tun hat. Konzerte, Theater-AG für groß und klein, Schulfeste, politischer Salon, Projektwochen, Berufspraktika, Aktionstage zur Startbahn West, zu Krieg und Frieden – die Dreieichschule hat mal mehr, mal weniger versucht, einen Bezug zur außerschulischen Realität herzustellen. Eine Selbsteinschätzung von 2005: „Die Dreieichschule wird als Gymnasium wahrgenommen im positiven Sinne, bei manchen auch als das kleine gallische Dorf an der B 3, das sich nichts gefallen lässt.“ Viele Jahre verlieh die Schule als Preis den Dreieichschul-Löwen für Schüler, die sich ohne Amt und Würde für andere eingesetzt haben; es gab von Personalrat und Schülervertretung sehr öffentlichkeitswirksame Schulhofaktionen zur besseren Lehrerversorgung und Ausstattung: Ironisch wurde die Schule sogar nach dem damaligen Kultusminister in ‚Hartmut Holzapfel-Schule‘ umgetauft.
Das schönste Bild gemeinsamen Schullebens liegt aber schon weiter zurück: Zum 150 Jahre-Jubiläum gelang es am 1. September 2000, die ganze Schule, d.h. alle Klassen für einen Umzug durch Langen zu begeistern. Jede Klasse hatte sich ein Thema, ein Fach herausgesucht, sich Verkleidungen und Plakatsprüche ausgedacht. Von Schillers Wilhelm Tell über Akteure der Französischen Revolution, musizierende, turnende oder Basketball spielende Gruppen bis zu DNA-Modellen, laufenden Primzahlen und body painting zeigte die Schulgemeinde den ungläubigen Langener Bürgern an den Fenstern der Bahnstraße, was die Dreieichschule alles sein kann. Eine Wiederholung zum jetzigen Jubiläum kann nur empfohlen werden.
Zumal in jüngster Zeit Außendarstellung und Außenwirkung sehr blass geworden sind. Wer aus der Dreieichschule tritt oder ausscheidet, ist draußen. Sind das Wir-und-Ihr-Denken die Wirkungen von Corona und home schooling, die Folgen der mühseligen Digitalisierungsversuche? Ist es also die Überbelastung, fehlender Respekt oder gar die Angst vorm eigenen Altern, wenn – wie früher selbstverständlich – die Ehemaligen nicht mehr zu Festen, Feiern, Ausflügen und besonderen Veranstaltungen persönlich eingeladen werden? Macht die Dreieichschule mit beim jüngsten Bildungsversuch, den Lehrer als Person verschwinden zu lassen? Wird die Jubiläumsveranstaltung zum Zweihundersten KI-gesteuert ablaufen? Nicht vergessen: Parallel zur Technik-Gläubigkeit gibt es bei Schülern und Eltern eine ganz tiefe Sehnsucht nach einer schulischen Bezugsperson, nach Menschlichkeit und Emotionalität – man blättere nur mal in den Abi-Jahrbüchern und höre die Wünsche auf Elternabenden der unteren Klassen!
Ich bin gespannt, welche Bilder die Dreieichschule in der Zukunft produziert. Film ab!
Wolfgang Tschorn